bisherige Beförderungspraxis der Finanzverwaltung rechtswidrig – OVG bringt versteinerte Verhältnisse zum Tanzen, Oberverwaltungsgericht NRW, Beschluss v. 25.11.2010, Az. 6 B 749/10

Kurzkommentar:

Bereits im Frühjahr 2010 hatten wir auf die Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 09.03.2010 hingewiesen, welche die Beförderungspraxis der Finanzverwaltungen für rechtswidrig erklärt hatte. Zugrunde lag bereits dieser Entscheidung die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes, wonach bei Beförderungsentscheidungen nicht nur die Gesamtnote berücksichtigt werden muss, sondern auch eine „Ausschärfung“ der gesamten Beurteilung stattzufinden hat. Dies bedeutet, dass auch Leistungsunterschiede bei einzelnen Beurteilungselementen berücksichtigt werden müssen.

Damals hatten wir die Frage gestellt, ob das OVG NRW sich dieser Rechtsprechung wohl anschließen würde, nachdem mehrere Jahre die Beförderungspraxis der Finanzverwaltung – auch nach 2004 – von den Gerichten nicht beanstandet wurde. Nun hat das OVG überraschend klar und überraschend schnell im Beschluss vom 25.11.2010 diese Frage beantwortet. Es hat sich ganz hinter die Entscheidung des HessVGH gestellt. Genauso wie dieses Gericht kommt es jetzt für NRW zu dem Ergebnis, dass die bisherige Beförderungspraxis der Oberfinanzdirektionen rechtswidrig ist. Wörtlich führt das Gericht in schnörkelloser Klarheit aus:

„Entgegen der Auffassung der Beschwerde genügen die BuBR 2006 [Beurteilungs- und Beförderungsrichtlinien, Anm. d. Autors] jedenfalls mit der Auslegung, die die Oberfinanzdirektion Rheinland ihrer Beförderungspraxis zugrunde legt, dem Leistungsgrundsatz des Art. 33 Abs. 2 GG nicht; denn danach sind für Beförderungen nur die Gesamturteile der letzten und vorausgegangener dienstlicher Beurteilungen maßgeblich sind und wird eine inhaltliche Ausschöpfung der Beurteilungen nicht vorgenommen.“

Zur Begründung trägt das OVG vor:

„Der Senat geht in ständiger Rechtsprechung,[…] davon aus, dass der Dienstherr bei Beförderungsauswahlentscheidungen zu einer inhaltlichen Ausschöpfung der vorliegenden dienstlichen Beurteilungen nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet ist, eine solche zumindest ernsthaft in Betracht zu ziehen. Der Dienstherr muss bei gleichlautenden Gesamturteilen der Frage nachgehen, ob die Einzelfeststellungen in aktuellen dienstlichen Beurteilungen eine Prognose über die zukünftige Bewährung im Beförderungsamt ermöglichen. Er darf sich also im Rahmen des Qualifikationsvergleichs nicht ohne Weiteres auf das Gesamturteil aktueller Beurteilungen beschränken.“

Angesichts dieser klaren Worte fragt man sich, warum das OVG trotz der seit 2004 bekannten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes die Beförderungspraxis der OFD’en bislang nicht beanstandet hat. Das OVG deutet eine Beantwortung dieser Frage dadurch an, dass es nicht die BuBR 2006, sondern die Verwaltungspraxis bei der Umsetzung dieser Vorschrift für den Fehler verantwortlich macht. Das OVG legt hierzu dar, dass sowohl die Leistungsbeurteilung als auch die Befähigungsbeurteilung durchaus Differenzierungen vorsieht, die berücksichtigt werden können, bislang aber nicht berücksichtigt wurden.

Alle Argumente der Finanzverwaltung gegen eine solche Einzelfallabwägung und „Ausschöpfung“ verschiedener Beurteilungen wies das OVG zurück. Es legt dar, dass es durchaus auch andere Behörden gibt, die eine Vielzahl von Beamten zu beurteilen und bei Beförderungsentscheidungen zu vergleichen haben. Auch sei die Situation keineswegs ungewöhnlich, dass Beförderungen im Bereich der Finanzverwaltung vielfach vergeben werden, ohnedass ein höherbewerteter Dienstposten übertragen wird. Das Fehlen eines Anforderungsprofils rechtfertige es mithin nicht, auf die „Ausschärfung“ beim Vergleich von Beurteilungen zu verzichten.

Die Finanzverwaltungen werden zukünftig also darauf achten müssen, dass nicht nur das Gesamturteil vom Willen des Beurteilers getragen wird, sondern auch die einzelnen Unterpunkte der Beurteilung genau geprüft werden. Dies ist in der Vergangenheit offenbar nicht immer geschehen, was jetzt zu den Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Rechtsprechung führt. Die zukünftigen BuBR müssen hier für Klarheit sorgen. Das OVG hat der Finanzverwaltung dabei durchaus den erforderlichen Spielraum gelassen, selber zu bewerten, welche Einzelfeststellungen und welche Differenzen zur Begründung eines Qualifikationsvorsprungs bedeutsam sind.

In jedem Fall wird klar, dass im Moment Finanzbeamtinnen und -beamte, die gegen eine Beförderungsentscheidung vorgehen wollen, sehr gute Chancen haben, mit anwaltlicher Hilfe und nach der Einschaltung der Gerichte die Beförderungsentscheidung „auf Eis“ zu legen. Umgekehrt ist momentan die Situation derjenigen Beamten sehr schwierig, die befördert werden sollen und die auf eine Beförderung hoffen. Häufig sind sie davon abhängig, dass ihre Konkurrenten still halten und nicht vor das Gericht ziehen. In jedem Fall hat die OVG-Entscheidung eine seit vielen Jahren praktizierte und geradezu versteinert wirkende Beförderungspraxis ins Wanken gebracht. Es wird noch längere Zeit dauern, bis wieder Ruhe einkehrt und Klarheit über die Beförderungskriterien geschaffen ist. Bildlich gesagt: das Oberverwaltungsgericht bringt versteinerte Verhältnisse zum Tanzen.

Nur am Rande ist darauf hinzuweisen, dass das OVG die Frage nicht endgültig entschieden hat, ob alleine die fehlende Beteiligung der Gleichstellungsbeauftragten die Auswahlentscheidung rechtswidrig macht. Möglicherweise hofft das OVG auf eine Klarstellung des Gesetzgebers. Im Moment trägt die OFD vor, es reiche aus, wenn die Gleichstellungsbeauftragte bei der Erstellung der BuBR beteiligt werde.

 

Link zum Volltext der Entscheidung