„schwerwiegender Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot in kirchlichen Disziplinarsachen“, Disziplinarkammer bei dem Kirchengericht der EKD, Beschluss v. 17.05.2023, Az. 0134/3-2022

Auch gegen Kirchenbeamt:innen und gegen Pfarrer:innen können bei Verstößen gegen die Dienstpflichten Disziplinarverfahren eingeleitet werden. Für den Bereich der Ev. Kirche bestimmt sich das Verfahren nach dem Disziplinargesetz der EKD (DG.EKD). Daraus ergibt sich auch der hier schon in der Vergangenheit vorgestellte Grundsatz für die Ermittlungsbehörden: „Du sollst nicht trödeln!“

Soweit die Rechtsprechung der Disziplinarkammern dokumentiert ist, hat nun zum zweiten Mal ein Kirchengericht über einen Antrag auf Fristsetzung zu entscheiden gehabt. Die Disziplinarkammer bei dem Kirchengericht der Ev. Kirche in Deutschland hat dem Antrag, der durch uns vertreten wurde, stattgegeben. (Auch den ersten Beschluss haben wir vertreten, er ist hier ebenfalls dokumentiert.)

Wörtlich führt die Disziplinarkammer aus:

  1. 1. Der Antragsgegnerin wird eine Frist von zwei Monaten gesetzt, innerhalb derer das gegen den Antragsteller mit Beschluss des Landeskirchenamtes der Evangelischen Kirche von Westfalen vom 19. April 2021 gegen den Antragsteller eingeleitete Dis­ziplinarverfahren abzuschließen ist.
  2. 2. Die Kosten des Antragsverfahrens, einschließlich der dem Antragsteller entstande­nen notwendigen Auslagen, trägt die Antragsgegnerin.

G r ü n de:

1.   Der Antragsteller ist als Pfarrer der Evangelischen Kirche von Westfalen seit vielen Jahren […] beschäftigt. Im Rahmen dieser Tätigkeit hatte er auch regelmäßig Kontakt zu Lehramtsanwärterrinnen, die der Schule, an der er beschäftigt war, zur Ausbildung zugewiesen waren. Die Anwärterin C. beschwerte sich mit Schreiben vom 3.3.2020 darüber, dass der Antragsteller sie im Rahmen ihrer Ausbildungszeit wiederholt sexuell belästigt haben soll, unter anderem durch sexuell anzügliche Bemerkungen und Witze, aufdringliche Kommentare über ihr Aussehen und das Privatleben, sexuell zwei­deutige Kommentare, Fragen mit sexuellen Inhalt zu ihrem Privatleben, aufdringliches Starren/Zuzwinkern, unerwünschte Berührungen an Arm und Rücken, wiederholte körperliche An­näherung und wiederholtes Herandrängeln ohne die übliche körperliche Distanz zu wahren. Bezüglich der genauen Einzelheiten wird auf den Inhalt dieses Schreibens Bezug genommen. Aufgrund eines Beschlusses des Landeskirchenamtes der Evangelischen Kirche von Westfa­len vom 19.4.2021 wurde deshalb gegen den Antragsteller ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Mit Schreiben vom 23.4.2021 erhielt der Antragsteller Gelegenheit, zu diesen Vorwürfen Stel­lung zu nehmen. Daraufhin meldete sich mit Schreiben vom 11.5.2021 sein Verfahrensbevoll­mächtigter, Rechtsanwalt Hotstegs unter Überreichung einer Vollmacht und eines Nachweises der Zugehörigkeit zur Evangelischen Kirche des Rheinlands. Er stellte zugleich den Antrag auf Akteneinsicht, um sodann für den Antragsteller eine Einlassung abzugeben.

In der Sitzung des Landeskirchenamtes vom 29.06.2021 wurde beschlossen, den Antragstel­ler vorläufig des Dienstes zu entheben und das Disziplinarverfahren auszusetzen, um bei der Staatsanwaltschaft in Arnsberg eine Strafanzeige gegen ihn zu erstatten. Diese Entscheidun­gen wurden dem Antragsteller mit Schreiben des Landeskirchenamtes vom 13.7.2021 bekannt gegeben. Parallel dazu wurde Rechtsanwältin und Notarin B. aus P. von der An­tragsgegnerin mit der weiteren Sachbearbeitung beauftragt. Diese war erst mit Erteilung der Vollmacht durch die Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen am 19.8.2021 förmlich zuständig. Das bei der Staatsanwaltschaft Arnsberg gegen den Antragsteller unter dem Az. … eingeleitete Ermittlungsverfahren ist von der zuständigen Dezernentin zügig bearbeitet und nach Vernehmung der für das Verfahren in Betracht kommenden Zeugen bereits im Dezember 2021 für einstellungsreif erachtet worden. Mit Verfügung vom 22.12.2021 leitete sie deshalb gemäß Nr. 90 der Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren dem Landeskirchenamt von Westfalen ihren Vermerk vom selben Tage zu, in welchem sie die Ein­stellungsgründe näher erläuterte und der Anzeigeerstatterin Gelegenheit gab, dazu binnen sechs Wochen Stellung zu nehmen. Nachdem diese Frist verstrichen war, ohne dass eine Stellungnahme des Landeskirchenamtes erfolgt war, wurde die Ermittlungsakte der Staatsan­waltschaft wiederholt zurückgefordert, ohne dass eine Reaktion des Landeskirchenamtes er­folgte. Aus den von der Kammer angeforderten Disziplinarvorgängen des Landeskirchenamtes lässt sich nicht entnehmen, warum es zu einer verzögerten Rücksendung der Ermittlungs­akte gekommen ist. Weitere Ermittlungen des Vorsitzenden haben ergeben, dass die Ermitt­lungsakte im Bereich des Landeskirchenamtes längere Zeit außer Kontrolle geraten und un­bearbeitet auf einer Fensterbank abgelegt war. Erst mit Schreiben vom 14.4.2022 erfolgte diesbezüglich eine Entschuldigung und Rücksendung der Akte. Infolge dieser vom Landeskirchenamt verschuldeten Verzögerung des Disziplinarverfahrens, konnte die Staatsanwaltschaft Arnsberg das Ermittlungsverfahren erst mit Verfügung vom 12.5.2022 gemäß § 170 Abs. 2 der Strafprozessordnung einstellen und sowohl den Antragsteller als auch die Antragsgegnerin darüber in Kenntnis setzen. Nachdem sich im Rahmen der Prüfung, ob gegen diese Entschei­dung Beschwerde eingelegt werden sollte, weitere Verfahrensverzögerungen durch die Ab­stimmung zwischen dem Ermittlungsführer und der Verfahrensbevollmächtigten ergeben hat­ten, wurde dem Antragsteller erst mit Schreiben vom 27.6.2022 mitgeteilt, dass das Ermitt­lungsverfahren nach § 29 Abs. 2 des DG.EKD fortgesetzt und weiter von Rechtsanwältin B. bearbeitet werden solle. Trotz wiederholter Anträge des Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers auf Akteneinsicht erfolgte von Seiten des Landeskirchenamtes und seiner Bevollmächtigten darauf keinerlei Reaktion. Schließlich sah sich der Verfahrensbevollmäch­tigte des Antragstellers veranlasst mit Schreiben vom 24.11.2022 – Eingang beim Kirchenge­richt der EKD am 28.11.2022 – einen Antrag auf Fristsetzung gemäß § 66 DG.EKD zu stellen. Zu diesem Zeitpunkt war zwar mit Blick auf die zwischenzeitliche Aussetzung des Disziplinar­verfahrens die Jahresfrist als Zulässigkeitsvoraussetzung noch nicht verstrichen, worauf die Verfahrensbevollmächtigte der Antragsgegnerin in ihrer Stellungnahme vom 19.12.2022 hin­wies. Aus dem Schreiben ergab sich aber zugleich auch, dass seit der Wiederaufnahme des Disziplinarverfahrens am 27.6.2022 bis Mitte Dezember 2022 keinerlei verfahrensfördernde Verfügungen getroffen worden sind. Es wurde lediglich in Aussicht gestellt, im Laufe des Ja­nuar 2023 die Zeuginnen C. und D., die bereits im Ermittlungsverfahren eingehend vernommen worden waren, nochmals vorzuladen zu vernehmen. Das ist in der Folgezeit allerdings auch nicht geschehen. Anlässlich einer mündlichen Verhandlung in ande­rer Sache hat der Vorsitzende der Verfahrensbevollmächtigten unter Hinweis auf den vorlie­genden Antrag empfohlen, mit dem Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers Kontakt aufzunehmen und über Möglichkeiten der Beendigung des Verfahrens zu sprechen. Anlässlich eines weiteren Termins in anderer Sache am 24.3.2023 teilte die Verfahrensbevollmächtigte dem Vorsitzenden mit, dass man sich voraussichtlich auf einen baldigen Verfahrensabschluss geeinigt habe. Mit Schreiben vom 15.5.2023 teilte der Verfahrensbevollmächtigte des Antrag­stellers nunmehr mit, dass der von der Landeskirche angekündigte Vergleichsvorschlag bis dahin nicht unterbreitet worden ist und beantragt, nunmehr zeitnah über den Antrag vom 24.11.2022 zu entscheiden.

II.       Der Antrag ist zulässig und begründet.

Die Disziplinarkammer bei dem Kirchengericht der EKD ist seit 1.7.2010 mit dem Inkrafttreten des Disziplinargesetzes der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 28.10.2009 örtlich und sachlich für die im Geschäftsbereich der Evangelischen Kirche von Westfalen anfallenden ge­richtlichen Disziplinarsachen zuständig.

Im Zeitpunkt der Antragstellung war das eingeleitete Disziplinarverfahren zwar noch nicht mehr als zwölf Monate anhängig. Nach der Aussetzung des Verfahrens zur Durchführung des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens und der Fortführung ist diese Frist allerdings unzweifelhaft deutlich überschritten, ohne dass es zu einem Verfahrensabschluss gekommen ist. Eine Überprüfung der Sachbehandlung in diesem Verfahren durch die Kammer hat ein­deutig ergeben, dass das Landeskirchenamt sich eines schwerwiegenden Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot in Disziplinarsachen (§ 8 DG.EKD) schuldig gemacht hat. Der An­tragsteller ist bereits seit Juli 2021 vorläufig von seinem Dienst enthoben. Spätestens im Mai 2022 stand unzweifelhaft fest, dass dem Antragsteller strafrechtlich relevante Vorwürfe nicht gemacht werden können. Die nachfolgende völlige Untätigkeit für mehr als sechs Monate lässt sich aus Sicht der Kammer nicht entschuldigen. Der Vorsitzende hat die Ermittlungsführer im Landeskirchenamt wiederholt darauf hingewiesen, dass eine eventuelle Arbeitsüberlastung oder längerfristige Erkrankung keine hinreichende Entschuldigung für eine Verfahrensverzö­gerung sind. Es ist vielmehr in solchen Fällen geboten, organisatorische Maßnahmen zu tref­fen, um dem Beschleunigungsgrundsatz zu genügen. Insbesondere kann sich das Landeskirchenamt von dieser Verantwortung nicht dadurch befreien, dass es eine Rechtsanwältin und Notarin beauftragt, die im Rahmen einer großen Kanzlei mit einer Vielzahl anderer Verfahren beschäftigt und deshalb aus Sicht der Kammer damit völlig überfordert zu sein scheint. Dazu sei lediglich nebenbei bemerkt, dass der Verfahrensbevollmächtigte des Antragstellers parallel zu diesem Verfahren bei der Verwaltungskammer dieses Gerichtes die bereits lange in Aus­sicht gestellte Klage gegen die Antragsgegnerin erhoben hat, mit welcher das Recht auf Ak­teneinsicht durchgesetzt werden soll. Der vorliegende Verstoß gegen den Beschleunigungs­grundsatz stellt aus Sicht der Kammer einen elementaren Verstoß gegen die Fürsorgepflicht der Landeskirche gegenüber ihren Pfarrerinnen und Pfarrern dar und trägt sicherlich nicht zu deren Motivation in ohnehin schwierigen Zeiten bei. Die Kammer spricht daher die dringende Empfehlung aus, nunmehr binnen der gesetzten Frist das Verfahren abzuschließen und ins­besondere dem Antragsteller eine neue berufliche Perspektive zu bieten. Sollte auch diese Frist ergebnislos verstreichen, ohne dass ein Abschluss des Verfahrens zu verzeichnen ist und ohne dass es triftige Gründe dafür gibt, wird die Kammer von der nach dem Gesetz eröff­neten Möglichkeit einer endgültigen Einstellung des Verfahrens Gebrauch machen.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 79 Absatz 1 und 3 DG.EKD i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.

siehe auch: 3 Rechtsansprüche in 1 Schreiben = 0 Akteneinsicht?!, Verwaltungskammer der Ev. Kirche v. Westfalen, Beschluss v. 06.03.2024, Az. VK 2/23