Versammlungsfreiheit gilt auch in öffentlichen Foren, Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 22.02.2011, Az. 1 BvR 699/06

In einer aufsehenerregenden Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht die Grenzen der Versammlungs- und Meinungsfreiheit neu bestimmt. Umfasst sind von der Versammlungsfreiheit nun auch ausdrücklich sogenannte „öffentliche Foren“, also Orte, die dem öffentlichen Verkehr dienen und mehrheitlich in öffentlichem Eigentum stehen. Dies trifft neben dem Frankfurter Flughafen, für den die Frage zu entscheiden war, auch auf eine Vielzahl von städtischen Einrichtungen zu, die mittlerweile in GmbH’s oder Aktiengesellschaften ausgelagert worden sind, so z.B. auch für Kliniken, aber auch für Anlagen der Deutschen Bahn AG, der Deutschen Post AG, der Deutschen Postbank AG oder der Deutschen Telekom AG.

Daher geben wir im Folgenden die leicht gekürzte Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts wieder:

 

„I. Sachverhalt der Entscheidung

1. Der Flughafen Frankfurt am Main wird von der Fraport Aktiengesellschaft (Fraport AG) betrieben. Ihre Anteile stehen mehrheitlich im Eigentum der öffentlichen Hand, aufgeteilt zwischen dem Land Hessen und der Stadt Frankfurt am Main. Der Flughafen umfasst neben der für die Abwicklung des Flugverkehrs bestimmten Infrastruktur zahlreiche Einrichtungen zu Zwecken des Konsums und der Freizeitgestaltung, die der Öffentlichkeit allgemein zugänglich sind.

2. Die Beschwerdeführerin ist Mitglied einer „Initiative gegen Abschiebungen“, die sich gegen die Abschiebung von Ausländern unter Mitwirkung privater Fluggesellschaften wendet. Nachdem sie mit fünf weiteren Mitgliedern in der Abflughalle des Frankfurter Flughafens im März 2003 an einem Abfertigungsschalter Flugblätter verteilt hatte, die sich gegen eine Abschiebung richteten, erteilte ihr die Fraport AG ein „Flughafenverbot“ mit dem Hinweis, dass gegen sie ein Strafantrag wegen Hausfriedensbruchs erstattet werde, sobald sie erneut „unberechtigt“ auf dem Flughafen angetroffen werde. Mit einem erläuternden Schreiben wies
sie die Beschwerdeführerin unter Bezugnahme auf ihre Flughafenbenutzungsordnung darauf hin, dass Sammlungen, Werbungen sowie das Verteilen von Flugblättern ihrer Einwilligung bedürfen und dass sie „nicht abgestimmte Demonstrationen im Terminal aus Gründen des reibungslosen Betriebsablaufes und der Sicherheit grundsätzlich nicht“ dulde.

3. Die von der Beschwerdeführerin vor den Zivilgerichten gegen die Fraport AG erhobene Klage auf Feststellung, dass das erteilte Demonstrations- und Meinungskundgabeverbot für das Gelände des Flughafens Frankfurt rechtswidrig sei, blieb in allen Instanzen ohne Erfolg. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin – unter anderem – eine Verletzung ihrer Grundrechte der Meinungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit durch die angegriffenen zivilgerichtlichen
Entscheidungen.

II. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mit 7 : 1 Stimmen entschieden, dass die angegriffenen zivilgerichtlichen Entscheidungen die Beschwerdeführerin in ihren Grundrechten der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG und der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG verletzen, und hat diese daher aufgehoben. Die Sache ist zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Frankfurt am Main zurückverwiesen worden.

III. Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

1. Die Fraport AG ist gegenüber der Beschwerdeführerin unmittelbar an die Grundrechte gebunden. Die Nutzung zivilrechtlicher Formen enthebt die staatliche Gewalt nicht von ihrer Bindung an die Grundrechte gemäß Art. 1 Abs. 3 GG. Von der öffentlichen Hand beherrschte gemischtwirtschaftliche Unternehmen unterliegen ebenso wie im Alleineigentum des Staates stehende öffentliche Unternehmen, die in den Formen des Privatrechts organisiert sind, einer unmittelbaren
Grundrechtsbindung.

Gemäß Art. 1 Abs. 3 GG binden die Grundrechte Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. Sie gelten nicht nur für bestimmte Bereiche, Funktionen oder Handlungsformen staatlicher Aufgabenwahrnehmung, sondern binden die staatliche Gewalt umfassend und insgesamt. Dabei liegt Art. 1 Abs. 3 GG eine elementare Unterscheidung zugrunde: Während der Bürger prinzipiell frei ist, ist der Staat prinzipiell gebunden. Dementsprechend ist der Bürger
seinerseits durch die Grundrechte nicht unmittelbar gebunden, sondern findet durch sie gegenüber dem Staat Anerkennung als freie Person, die in der Entfaltung ihrer Individualität selbst verantwortlich ist. Seine Inpflichtnahme durch die Rechtsordnung ist von vornherein relativ und prinzipiell begrenzt; der Staat schafft hierbei auch einen Ausgleich zwischen den verschiedenen Grundrechtsträgern und bringt damit zwischen diesen die Grundrechte mittelbar zur Geltung. Demgegenüber handelt der
Staat in treuhänderischer Aufgabenwahrnehmung für die Bürger und ist ihnen rechenschaftspflichtig. Seine Aktivitäten verstehen sich nicht als Ausdruck freier subjektiver Überzeugungen in Verwirklichung persönlicher Individualität, sondern bleiben in distanziertem Respekt vor den verschiedenen Überzeugungen der Staatsbürger und werden dementsprechend von der Verfassung umfassend und unmittelbar an die Grundrechte gebunden. Dies gilt auch, wenn er für seine Aufgabenwahrnehmung auf das Zivilrecht zurückgreift.

Die unmittelbare Grundrechtsbindung trifft nicht nur öffentliche Unternehmen, die vollständig im Eigentum der öffentlichen Hand stehen, sondern auch gemischtwirtschaftliche Unternehmen, wenn diese von der öffentlichen Hand beherrscht werden. Dies ist in der Regel der Fall, wenn mehr als die Hälfte der Anteile im Eigentum der öffentlichen Hand stehen. Die Annahme einer unmittelbaren Grundrechtsbindung nicht nur der Anteilseigner, sondern auch des betreffenden Unternehmens selbst entspricht seinem Charakter als verselbständigter Handlungseinheit und stellt eine effektive Grundrechtsbindung unabhängig davon sicher, ob, wieweit und in welcher Form der oder die Eigentümer gesellschaftsrechtlich auf die Leitung der Geschäfte Einfluss nehmen können und wie bei Unternehmen mit verschiedenen öffentlichen Anteilseignern eine Koordination der Einflussrechte verschiedener öffentlicher Eigentümer zu gewährleisten ist. Die Rechte der privaten
Anteilseigner erfahren hierdurch keine ungerechtfertigte Einbuße: Ob diese sich an einem öffentlich beherrschten Unternehmen beteiligen oder nicht, liegt in ihrer freien Entscheidung, und auch wenn sich die Mehrheitsverhältnisse erst nachträglich ändern, steht es ihnen wie bei der Änderung von Mehrheitsverhältnissen sonst frei, hierauf zu reagieren. Ohnehin unberührt bleibt ihre Rechtsstellung als Grundrechtsträger insbesondere des Eigentumsgrundrechts unmittelbar
gegenüber den öffentlichen Anteilseignern oder sonst gegenüber der öffentlichen Gewalt.

2. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin in ihrer Versammlungsfreiheit.

a) Der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit ist eröffnet. Die Versammlungsfreiheit gewährleistet den Grundrechtsträgern unter anderem das Recht, über den Ort der Veranstaltung frei zu bestimmen. Sie verschafft ihnen damit allerdings kein Zutrittsrecht zu beliebigen Orten. Insbesondere können Versammlungen nicht ohne Weiteres auf frei gewählten Privatgrundstücken durchgeführt werden. Allerdings ist die Versammlungsfreiheit auch nicht auf den öffentlichen Straßenraum
begrenzt. Vielmehr verbürgt sie die Durchführung von Versammlungen auch an anderen Orten, wo ein öffentliches Unternehmen einen allgemeinen
öffentlichen Verkehr eröffnet hat. Wenn heute die Kommunikationsfunktion der öffentlichen Straßen zunehmend durch weitere Foren wie Einkaufszentren oder sonstige Begegnungsstätten ergänzt wird, kann die Versammlungsfreiheit für die Verkehrsflächen solcher Einrichtungen nicht ausgenommen werden, soweit eine unmittelbare Grundrechtsbindung besteht oder Private im Wege der mittelbaren Drittwirkung in Anspruch genommen werden können. Dies gilt unabhängig davon, ob die Flächen sich in eigenen Anlagen befinden oder in Verbindung mit Infrastruktureinrichtungen stehen, überdacht oder im Freien angesiedelt sind.

Orte allgemeinen kommunikativen Verkehrs, die neben dem öffentlichen Straßenraum für die Durchführung von Versammlungen in Anspruch genommen werden können, sind zunächst nur solche, die der Öffentlichkeit allgemein geöffnet und zugänglich sind. Ausgeschlossen sind demgegenüber zum einen Orte, zu denen der Zugang individuell kontrolliert und nur für einzelne, begrenzte Zwecke gestattet wird. Zum anderen beantwortet sich die Frage, ob ein solcher außerhalb öffentlicher Straßen, Wege und Plätze liegender Ort als ein öffentlicher Kommunikationsraum zu beurteilen ist, nach dem Leitbild des öffentlichen Forums. Dieses ist dadurch charakterisiert, dass auf ihm eine Vielzahl von verschiedenen Tätigkeiten und Anliegen verfolgt werden kann und hierdurch ein vielseitiges und offenes Kommunikationsgeflecht entsteht.
Die von der Beschwerdeführerin beabsichtigten Zusammenkünfte fallen in den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit, da sie auch Bereiche des Frankfurter Flughafens betreffen, die als Orte allgemeinen kommunikativen Verkehrs ausgestaltet sind.

b) Die angegriffenen Entscheidungen greifen in die Versammlungsfreiheit ein. Grundsätzlich finden als Rechtsgrundlagen für Eingriffe durch die Versammlungsbehörden und die Vollzugspolizei auch im Frankfurter Flughafen die Vorschriften des Versammlungsgesetzes Anwendung. Daneben können Eingriffe durch die Flughafenbetreiberin aber auch auf das privatrechtliche Hausrecht gemäß § 903 Satz 1, § 1004 BGB als ein die Versammlungsfreiheit beschränkendes Gesetz im Sinne des Art. 8 Abs. 2 GG
gestützt werden. Versammlungen an Orten allgemeinen kommunikativen Verkehrs sind Versammlungen unter freiem Himmel im Sinne des Art. 8 Abs. 2 GG. Dies gilt unabhängig davon, ob die der Allgemeinheit geöffneten Orte als solche in der freien Natur oder in geschlossenen Gebäuden liegen. Maßgeblich ist, dass Versammlungen an solchen Orten ihrerseits in einem öffentlichen Raum, das heißt inmitten eines allgemeinen Publikumsverkehrs stattfinden und von diesem nicht räumlich getrennt
sind.
c) Der Eingriff ist nicht gerechtfertigt, weil das von den Zivilgerichten bestätigte Verbot unverhältnismäßig ist. Grundsätzlich können die zivilrechtlichen Befugnisse nicht so ausgelegt werden, dass sie über die den Versammlungsbehörden verfassungsrechtlich gesetzten Grenzen hinausreichen. Danach kommt die Untersagung einer Versammlung nur dann in Betracht, wenn eine unmittelbare, aus erkennbaren Umständen herleitbare Gefahr für mit der Versammlungsfreiheit gleichwertige,
elementare Rechtsgüter vorliegt. Dies hindert indes nicht, dass dem besonderen Gefahrenpotential von Versammlungen in einem Flughafen in spezifischer Weise begegnet und die Rechte anderer Grundrechtsträger berücksichtigt werden können. Hierbei rechtfertigt die besondere Störanfälligkeit eines Flughafens in seiner primären Funktion als Stätte zur Abwicklung des Luftverkehrs auch Einschränkungen, die nach Maßgabe der Verhältnismäßigkeit im öffentlichen Straßenraum nicht hingenommen werden müssen. Auch kann die Flughafenbetreiberin nach Maßgabe der verfassungsrechtlichen Anforderungen für die Wahrnehmung des
Versammlungsrechts im Flughafen transparente Regeln schaffen, die an die räumlichen Gegebenheiten und insbesondere an die spezifischen
Funktionsbedingungen wie Gefahrenlagen angepasst sind. Solche Regeln lassen die hoheitlichen Befugnisse der Versammlungsbehörden und der
Einsatzkräfte der Vollzugspolizei vor Ort unberührt.
Das vorliegende Verbot untersagt der Beschwerdeführerin jedoch ohne konkrete Gefahrenprognose auf unbegrenzte Zeit die Durchführung jeglicher Versammlungen in allen Bereichen des Flughafens, sofern diese nicht vorher nach Maßgabe einer grundsätzlich freien Entscheidung von der Fraport AG erlaubt werden. Dies ist mit der Versammlungsfreiheit nicht vereinbar.

3. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin auch in ihrer Meinungsfreiheit.
a) Auch die Meinungsäußerungsfreiheit ist dem Bürger allerdings nur dort gewährleistet, wo er tatsächlich Zugang findet. Anders als im Fall des Art. 8 Abs. 1 GG ist dabei die Meinungskundgabe aber schon ihrem Schutzbereich nach weiter und nicht auf öffentliche, der Kommunikation dienende Foren begrenzt. Denn im Gegensatz zur kollektiv ausgeübten Versammlungsfreiheit impliziert die Ausübung der Meinungsfreiheit als Recht des Einzelnen in der Regel keinen besonderen Raumbedarf und
eröffnet auch nicht einen eigenen Verkehr, der typischerweise mit Belästigungen verbunden ist. Als Individualrecht steht sie dem Bürger vom Grundsatz her überall dort zu, wo er sich jeweils befindet.
b) Das von den Zivilgerichten bestätigte Verbot, das der Beschwerdeführerin untersagt, ohne die vorab einzuholende Erlaubnis der Fraport AG im Flughafen Flugblätter zu verteilen, ist unverhältnismäßig. Als legitimer Zweck zur Einschränkung der Meinungsfreiheit kann nicht der Wunsch herangezogen werden, eine „Wohlfühlatmosphäre“ in einer reinen Welt des Konsums zu schaffen, die von politischen Diskussionen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen frei bleibt. Ausgeschlossen sind gleichfalls Verbote, die dem Zweck dienen, bestimmte Meinungsäußerungen allein deshalb zu unterbinden, weil sie von der Flughafenbetreiberin nicht geteilt, inhaltlich missbilligt oder wegen kritischer Aussagen gegenüber dem betreffenden Unternehmen als geschäftsschädigend beurteilt werden. Demgegenüber kann die Nutzung der Flughafenflächen für die Verbreitung von Meinungen nicht anders als im öffentlichen Straßenraum auch nach Maßgabe funktionaler Gesichtspunkte zu Zwecken des Rechtsgüterschutzes begrenzt und geordnet werden. Dabei müssen die Einschränkungen allerdings dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
entsprechen. Dies schließt es jedenfalls aus, das Verteilen von Flugblättern im Flughafen allgemein und damit auch für die als öffentliche Foren ausgestalteten Bereiche zu verbieten oder generell von einer Erlaubnis abhängig zu machen. Demgegenüber sind Beschränkungen, die sich auf bestimmte Orte, Arten oder Zeitpunkte der Meinungskundgabe im Flughafen beziehen, zur Verhinderung von Störungen nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Diesen Anforderungen genügen die
angegriffenen Entscheidungen jedoch nicht.“

Die Entscheidung wird sicherlich weitere Diskussionen in der Fachliteratur auslösen und gleichzeitig aber praktische Bedeutung für Demonstrationen und Versammlungen „vor Ort“ entfalten. Klar ist, dass auch weiterhin die öffentliche Hand die „Flucht in das Privatrecht“ nicht ergreifen darf, um zugleich die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger zu beschneiden.

 

Dr. Henning Obst und Robert Hotstegs

Rechtsanwälte