falsche Kostenschätzung kann gerichtlich im Eilverfahren beanstandet werden, Verwaltungsgericht Münster, Beschluss v. 25.02.2016, Az. 1 L 181/16

Eine sehr erfreuliche Entscheidung des Verwaltungsgerichts Münster hat große Bedeutung für alle Bürgerbegehren in Nordrhein-Westfalen. Bislang war nämlich unklar, wann und inwieweit die Kostenschätzung der Verwaltung gerichtlich überprüft werden kann.

Nach der Systematik der Gemeindeordnung skizziert ein Bürgerbegehren sein Anliegen und die Verwaltung schätzt diese Kosten. Die Formulierung ist bindend und muss wortgetreu auf den Unterschriftslisten abgedruckt werden. Hier lag nun der Hase im Pfeffer: was tun, wenn die Kostenschätzung offensichtlich an einem Fehler leidet oder die Kosten übertrieben hoch angesetzt werden, um Bürger abzuschrecken.

Hier ist nun ein Eilverfahren möglich, um die Stadt zur erneuten Kostenschätzung zu verpflichten. Die Frist zur Unterschriftensammlung ist dann bis zur neuen Mitteilung der Kostenschätzung weiterhin gehemmt.

An dieser Stelle bleibt leider eine Schwachstelle erkennbar: sammeln die Bürger mit der beanstandeten Kostenschätzung zunächst keine Unterschriften und verweigert das Verwaltungsgericht den Eilrechtsschutz, ist womöglich wertvolle Zeit zur Unterschriftensammlung verstrichen. Dieses Prozessrisiko sollte nicht unterschätzt werden und macht daher eine schnelle und professionelle Bearbeitung erforderlich.

Die Entscheidung lautet im Wortlaut:

Der Antragsgegnerin wird im Wege einstweiliger Anordnung aufgegeben, den Anstragstellern unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts eine neue Kostenschätzung im Hinblick auf das Bürgerbegehren „E.“ mitzuteilen.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.

Gründe:

A. Der sinngemäße Antrag der Antragsteller,

der Antragsgegnerin aufzugeben, ihnen eine neue Kostenschätzung im Hinblick auf das Bürgerbegehren „E.“ mitzuteilen,

hat Erfolg.

I. Der Antrag ist als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zulässig. Der Antrag ist insbesondere statthaft, da in der Hauptsache eine allgemeine Leistungsklage auf Erteilung einer neuen Kostenschätzung zu erheben wäre. Bei der Mitteilung der Kostenschätzung handelt es sich nämlich mangels Regelung nicht um einen Verwaltungsakt i.S.d. § 35 VwVfG NRW, sondern um einen Realakt.

Vgl. Auch von Lennep in: Rehn/Cronauge u.a., GO NRW, Loseblattkomm., Bd. I, Stand: Juni 2015, § 26, III. 3.

Dem Antrag fehlt – entgegen der Auffasung der Antragsgegnerin – auch nicht das Rechtsschutzbedürfnis. Denn die Vertreter des Bügerbegehrens haben ein Interesse daran, eine aus ihrer Sicht unzutreffende Kostenschätzung frühzeitig gerichtlich überprüfen zu lassen. Es trifft zwar zu, dass die Vertreter des Bürgerbegehrens verpflichtet sind, die Kostenschätzung der Verwaltung unverändert zu übernehmen, und eine abweichende Auffasung zu den voraussichtlichen Kosten in einer Art Gegendarstellung in der Begründung darlegen können.

Vgl. Ausführlich VG Münster, Urteil vom 8. Dezember 2015 – 1 K 2420/14 -, juris, Rn. 30-32 m.w.N

Vorausgesetzt ist dabei allerdings, dass die in der Kostenschätzung mitgeteilten Grundlagen der Schätzung zutreffen.

Dem Rechtsschutzbedürfnis steht auch nicht die Rechtsauffassung der Antragsgegnerin entgegen, das Bürgerbegehren sei unzulässig. Denn die Antragsgegnerin ist auch unter Zugrundelegung ihrer Rechtsauffassung nach § 26 Abs. 2 Satz 5 GO NRW verpflichtet, eine Kostenschätzung zu erteilen. Weder die Antragsgegnerin noch das Gericht haben in diesem Stadium des Verfahrens eine Entscheidung über die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens zu treffen. Denn diese Entscheidung trifft nach § 26 Abs. 6 Satz 1 GO NRW (zunächst) der Rat.

II. Der Antrag ist auch begründet.

Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwehren oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2. 294 Abs. 1 ZPO).

Die Antragsteller haben einen Anordnungsgrund und einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.

1. Der Anordnungsanspruch ergibt sich aus § 26 Abs. 2 Satz 5 GO NRW. Die Antragsteller haben einen Anspruch auf Mitteilung einer plausiblen und hinsichtlich der tatsächlichen Grundlagen zutreffenden und vollständigen Kostenschätzung. Hier ist die mitgeteilte Tatsachengrundlage nicht vollständig, da der Haftungsausschluss aus dem Durchführungsvertrag nicht wiedergegeben wird.

Nach § 26 Abs. 2 Satz 5 GO NRW teilt die Verwaltung den Vertretungsberechtigten des Bürgerbegehrens schriftlich eine Einschätzung der mit der Durchführung der Maßnahme verbundenen Kosten (Kostenschätzung) mit. Die Kostenschätzung der Verwaltung ist gemäß § 26 Abs. 2 Satz 6 GO NRW bei der Sammlung der Unterschriften anzugeben.

Weder der Gesetzeswortlaut noch die Gesetzesbegründung enthalten Angaben zum zwingenden Inhalt oder zum Umfang einer Kostenschätzung. Die Gesetzesbegründung zu § 26 Abs. 2 GO NRW führt jedoch aus, dass de Kommunalverwartung eine „plausible und summarische Kostenschätzung“ erstellt. Die Notwendigkeit einer plausiblen und hinsichtlich der tatsächlichen Grundlagen zutreffenden und vollständigen Kostenschätzung ergibt sich aus deren Sinn und Zweck.

Der für Bürgerbegehren bisher notwendige Kostendeckungsvorschlag ist durch das Gesetz zur Stärkung der Bürgerbeteiligung vom 13. Dezember 2011 (GV. NRW S. 685) durch eine Kostenschätzung der Verwaltung ersetzt worden. Der frühere Kostendeckungsvorsohlag bestand aus zwei Elementen: Neben der Kostenschätzung musste er einen konkreten Vorschlag enthalten, wie die Kosten gedeckt werden können. Durch die Neuregelung sollten die Bürger bei der Initiierung eines Bürgerbegehrens von den strengen Voraussetzungen des Kostendeckungsvorschlages entlastet werden. Nach ständiger Rechtsprechung und übereinstimmender Meinung in der Literatur wollte der Gesetzgeber durch den (früheren) Kostendeckungsvorschlag sicherstellen, dass die Bürger in finanzieller Hinsicht über die Tragweite und Konsequenzen der im Wege des Bürgerbegehrens vorgeschlagenen Entscheidung unterrichtet werden.

Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 18. April 2012 – 15 A 3047/11 -‚ juris, Rn. 12; vom 23. Juni 2008 – 15 A 2963/07-, juris, Rn. 27; vom 21. Januar 2008 – 15 A 2697/07 -, juris, Rn. 8 und vom 28. Januar 2003 – 15 A 203/02 -‚ juris, Rn. 37ff. Hess. VGH, Beschluss vom 18. März 2009 -8 B 528/09 -, DÖV 2009, S. 724; Brunner in: Kleerbaum/Palmen, GO NRW, 2. Aufl. 2013, § 26, III. 7 a).

Nichts anderes gilt für die Kostenschätzung nach neuem Recht. Auch diese hat die Funktion, die Bürger über die Kostenfolge der vom Bürgerbegehren beabsichtigten Maßnahme zu informieren. Die Kosten der Maßnahme sind von großer Bedeutung und oftmals ein wesentliches Entscheidungskriterium, über das die Bürger informiert werden müssen.

Vgl. so ausdrücklich die amtliche Begründung des Gesetzentwurfs der Landesregierung, LT-Drs. 15/2151, S. 14; auch von Lennep in: Rehn/Cronauge u.a., GO NRW, Loseblattkomm., Bd. I, Stand: Juni 2015, § 26, III. 3; Brunner in: Kleerbaum/Palmen, GO NRW, 2. Aufl. 2013, § 26, III.7 a).

Unter Zugrundelegung dieser Vorgaben ist die von der Antragsgegnerin mitgeteilte Kostenschätzung nicht vollständig und deshalb unzutreffend. Die Kostenschätzung ist nicht geeignet, den Bürger über die voraussichtlichen Kosten der Maßnahme (hier: „Verzicht auf den Ausbau des G. Weges“) zu informieren. Allerdings ergibt sich dies nicht aus der Formulierung „Der Umfang solcher Entschädigungsansprüche ist derzeit nicht bezifferbar.“ Soweit – wie hier – das Entstehen und die Höhe von möglichen Schadensersatzansprüchen nicht zu prognostizieren sind, weil sie erst von der zukünftigen Entwicklung des Sachverhalts abhängen, ist eine Formulierung wie die vorgenannte unschädlich. Die mitgeteilte Kostenschätzung ist aber unzutreffend weil eine wesentflche Tatsachengrundlage nicht mitgeteilt wurde. Im Einzelnen:

Die Kostenschätzung nennt jedenfalls im Hinblick auf die Frage, ob Kosten durch etwaige Schadensersatzansprüche der Vorhabenträgerin entstehen können, nicht die vollständige Tatsachengrundlage.

Die von der Antragsgegnerin mitgeteilte Kostenschätzung hat folgenden Wortlaut

„In dem Durchführungsvertrag zum vorhabenbezogenen Bebauungsplan Nr. 564 hat sich die Vorhabenträgerin zum Ausbau des G. Weges verpflichtet. Das Erschließungskonzept des Bebauungsplans beruht auf dem Ausbau dieses Wegs. Bei einem Erfolg des Bürgerbegehrens würde sich die Frage stellen, ob die Vorhabenträgerin wenn sie den Weg nicht bereits ausgebaut hat, an diesem Ausbau gehindert wäre oder ob sich daraus die Notwendigkeit ergeben würde, den Bebauungsplan aufzuheben. Es ist nicht auszuschließen, dass eine Aufhebung des Bebauungsplans Entschädigungsansprüche nach § 39 BauGS für Aufwendungen die im Vertrauen auf den Bestand des Bebauungsplans getätigt worden sind, und nach § 42 BauGB wegen der Änderung bzw. Aufhebung einer zulässigen Nutzung auslösen würde. Der Umfang solcher Entschädigungsansprüche ist derzeit nicht bezifferbar.“

Diese Kostenschätzung leidet daran, dass die Regelung. zum Haftungsausschluss in IX a) (2) des Durchführungsvertrages gem. §§ 12, 124 BauGB zum vorhabenbezogenen Bebauungsplan Nr. 564, G. – nordwestlich G. Weg, nicht mitgeteilt wird. Diese Regelung lautet:

„Für den Fall, dass der Bebauungsplan nicht in Kraft tritt oder aufgehoben wird, können Ansprüche gegen die Stadt nicht geltend gemacht werden. Dies gilt auch für den Fall, dass sich die Nichtigkeit des Bebauungsplans im Verlaufe oder als Ergebnis eines gerichtlichen Streitverfahrens herausstellt. …“

Die Wiedergabe dieser Klausel ist im Zusammenhang mit der Thematiserung von Entschädigungsansprüchen geboten. Ob und welche rechtlichen Folgen sich aus dieser vertraglichen Regelung für etwaige Schadensersatzansprüche der Vorhabenträgerin ergeben; ist eine Frage der Auslegung des Durchführungsvertrages und damit eine Rechtsansicht. Die Antragsgegnerin ist befugt, in der Kostenschätzung ihre Rechtsauffassung zu möglichen Schadensersatzansprüchen etwa der Vorhabenträgerin zu vertreten. Dieser Rechtsauffassung können die Antragsteller in der Begründung des Bürgerbegehrens ihre abweichende Rechtsauffassung, es handele sich um einen umfassenden Haftungsausschluss, entgegenstellen.

Soweit es um die Frage der Erschließung des Baugebiets G. Weg geht, ist die Antragsgegnerin ihrer Verpflichtung in Bezug auf die Tatsachengrundlage nachgekommen. Bei der in der angefochtenen Kostenschätzung enthaltenen Aussage „Das Erschließungskonzept des Bebauungsplans beruht auf dem Ausbau dieses (des G.) Weges“ handelt es sich entgegen der Auffassung der Antragsteller um eine zutreffende Tatsache. Denn sowohl aus dem vorhabenbezogenen Bebauungsplans Nr. 564 als auch aus dem Durchführungsvertrag mit der Vorhabenträgerin ergibt sich, dass das Plangebet über den G. Weg erschlossen wird (vgl. etwa die Begründung des Bebauungsplans, dort Nr. 5 Planungsziele und Ziff. III. 1 (1) des Durchführungsvertrages – Beschreibung des Vorhabens -).

2. Die Antragsteller haben auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Die Regelung ist nötig, um wesentliche Nachteile für die Antragsteller abzuwenden. Da die Antragsteller verpflichtet sind, die Kostenschätzung der Verwaltung zu übernehmen und auf den Unterschriftslisten abzudrucken, sind sie auf eine zutreffende Kostenschätzung angewiesen. Eine Vorwegnahme der Hauptsache ist hier ausnahmsweise gerechtfertigt, weil eine Entscheidung in der Hauptsache zur Rechtmäßigkeit der Kostenschätzung nichts mehr ausrichten könnte.

B. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

C. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG. Die Kammer setzt den in § 52 Abs. 2 GKG vorgesehenen Auffangwert fest, der auch für ein entsprechendes (nur auf die Kostenschätzung bezogenes) Hauptsacheverfahren anzusetzen wäre, weil die Antragsteller mit ihrem Antrag im vorläufigen Rechtsschutzverfahren eine Vorwegnahme der Hauptsache erstreben.

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