Tätowierungen an beiden Armen stehen einer Teilnahme am Auswahlverfahren für den Polizeidienst nicht entgegen, Verwaltungsgericht Aachen, Pressemitteilung v. 31.07.2012, Az. 1 L 277/12

Die 1. Kammer des Verwaltungsgerichts Aachen hat mit Beschluss vom 31. Juli 2012 im vorläufigen Rechtsschutzverfahren (1 L 277/12) entschieden, dass ein Bewerber für den Polizeidienst nicht deshalb aus dem Auswahlverfahren ausgeschlossen werden darf, weil er an beiden Armen großflächige Tätowierungen vom Schulterbereich bis zu den Unterarmen aufweist.

Das zuständige Landesamt für die Polizeiausbildung in Selm (Kreis Unna) wies den Einstellungsbewerber unter Hinweis auf dessen mangelnde Eignung wegen der Tätowierungen ab und berief sich u.a. darauf, dass deutlich sichtbare Tätowierungen mit der Neutralität eines Polizeibeamten nicht in Einklang zu bringen seien. Nach einem Erlass des Innenministeriums aus dem Jahre 1995 stellten Tätowierungen, die beim Tragen der Sommeruniform zu sehen seien, einen Eignungsmangel dar.

Das Gericht hat betont, dem Antragsteller dürfe nicht bereits die Gelegenheit genommen werden, dass Testverfahren für die am 1. September 2012 beginnende Polizeiausbildung zu durchlaufen. Die ablehnende Entscheidung des Landesamtes mache nicht deutlich, welche konkreten Eignungsmängel dem Antragsteller vorgehalten würden. Die Vorgaben eines 17 Jahre alten Erlasses dürften angesichts des gesellschaftlichen Wandels nicht ohne nähere Prüfung eine mangelnde Eignung begründen können. Ob in großflächigen Tätowierungen im sichtbaren Hautbereich tatsächlich eine „überzogene Individualität“ zum Ausdruck komme, wie das Landesamt angenommen habe, müsse in einem Hauptsacheverfahren näher untersucht werden. Ob der Antragsteller tatsächlich die Voraussetzungen für die spätere Übernahme in den Polizeidienst erfülle, könne nun in dem anstehenden Testverfahren festgestellt werden. Der Beschluss ist nicht rechtskräftig.

Anmerkung:

Es handelt sich um den Beschluss in einem gerichtlichen Eilverfahren, das nur zur vorläufigen Regelungen dient. Der Beschluss besagt (noch) nicht, dass Tätowierungen von Beamten grenzenlos zulässig sind. Das Gericht betont nur, dass die Klärung in einem Hauptsacheverfahren erforderlich ist und bis dahin dem Kläger nicht verwehrt werden kann, sich zum Polizisten ausbilden zu lassen. Über die Eignung zum Polizeibeamten muss später im normalen Klageverfahren gestritten werden. Trotzdem deutet sich an, dass die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen heute Tatoos üblicher als früher und weniger sozial stigmatisiert sind, auf die Einstellungsanforderungen für Beamte durchschlagen und eine mildere Sichtweise begünstigen. Ähnliche Entwicklungen gab es bereits früher in Bezug auf die Haarlänge und Ohrschmuck von Polizisten (sogen. Haarerlass der Polizei). Ein verwaltungsinterner Erlass kann die Rechtsfrage ohnehin nicht verbindlich regeln, da es hier um einen grundrechtlich geschützten Einstellungsanpruch geht (Art. 33 Abs. 2 Grundgesetz: „Jeder Deutsche hat nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte.“). Was eine Eignungsvoraussetzung in diesem Sinne ist, kann die Polizeiverwaltung nicht abschließend regeln.

Falls die Entscheidung rechtskräftig wird, stellen sich eine Reihe von Folgefragen. Dies ist einmal, ob Tatoos und andere dauerhafte Körperveränderungen bei Verbeamtungen grenzenlos zugelassen werden. Dies gilt etwa für Gesichtstatoos oder andere Formen der sogenannten Body-Modification. Ferner stellt sich die Frage, wie die Behörden dann vorgehen wollen, wenn solche Veränderungen (z.B. sichtbare Tatoos, Skarifizierungen, Implants unter der Haut) nachträglich, d.h. nach der Verbeamtung erfolgen. Vertritt man die Auffassung, dass Derartiges der Verbeamtung entgegensteht, wären disziplinarische Konsequenzen zu erwarten. Es ist daher zunächst abzuwarten, ob die Entscheidung rechtskräftig wird.

[Aktualisierung 15.08.2012]

Die Gerichtsentscheidung liegt jetzt im Volltext vor. Es ergeben sich danach folgende neue Aspekte:

  • Das Gericht sieht die Anspruchsgrundlage des klagenden Bewerbers in der Berufswahlfreiheit (Art. 12 Abs. 1GG) und dem Grundrechtschutz für einen freien Zugang zu öffentlichen Dienst gemäß Eignung, Befähigung und Leistung (Art. 33 Abs. 2 GG).
  • Bei behördlich behaupteten Eignungsmängeln muss dargelegt werden, ob diese persönlicher, gesundheitlicher oder charakterlicher Art sind. Der hier angefochtene Bescheid, der die Ausbildung wegen der Tatoos eines Bewerbers verwehrte, ist schon fehlerhaft, weil nicht dargelegt wird, welcher der drei Mängel eingreifen soll.
  • Tatoos auch auf sichtbaren Körperteilen sind Ausdruck des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach Art. 2 Abs. 1 GG; durch die geänderten gesellschaftlichen Verhältnisse kann man daraus keine „überzogene Individualität“ herleiten.
  • Ein Eilgrund für eine vorläufige Regelung des Gerichtes besteht, weil der Einstellungsanspruch sonst für ein Jahr vereitelt würde. Auch eine zeitweise Verschiebung des Anspruchs nach Art. 12 i.V.m. Art. 33 GG begründet einen Anordnungsgrund.