„Drei Gründe, warum es weiterhin sinnvoll ist, als Jurist eine Promotion zu fertigen“, Ansprache zur Akademische Feier des Fachbereichs Rechtswissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen am 28.10.2011

„Heute sprechen wir über drei Sommersprossen“. Mit diesen Worten empfing uns eines Tages mein Doktorvater, Prof. Helmut Ridder, im Doktorandenseminar. Seinerzeit schauten wir uns sehr verdutzt an und kamen nicht recht dahinter, was Prof. Ridder gemeint hatte. Er sah unsere Verwunderung und forderte uns auf, den Begriff „Sommersprossen“ zu analysieren. Es dauerte ca. zehn Minuten, bis der erste Teilnehmer herausfand, dass es sich um „Gesichtspunkte“ handelt. Damals hielt ich das für die unterhaltsame Auflockerung eines trockenen juristischen Seminars durch einen geistreichen Lehrer. Später fand ich heraus, dass die Äußerung durchaus einen gewissen Bezug zur juristischen Tätigkeit hatte. Als Juristen stehen wir immer wieder vor der Notwendigkeit, bestimmte Worte und Begriffe in Gesetzen und Verträgen zu verstehen und ihren Sinn und Zweck zu hinterfragen.

Heute soll mit Ihnen über Sinn und Zweck einer juristischen Promotion gesprochen werden und ich möchte Sie auf drei Gesichtspunkte hinweisen, die mir wichtig erscheinen. Hierüber zu reden, erscheint mir wichtig, da wir nach den bekannten Missbrauchsfällen des Doktortitels im politischen Raum viele Versuche erleben, den Doktortitel generell zu entwerten oder sogar lächerlich zu machen. Diese Versuche halte ich für unberechtigt, denn es ist nicht sinnvoll, das Kind mit dem Bade auszuschütten.

Nachfolgend will ich Ihnen über meine Erfahrung berichten, in der Hoffnung, dass diese einige allgemeine Aspekte aufweisen, die auch für andere Personen Gültigkeit haben.

Den ersten Aspekt, den ich erwähnen will, kann man mit dem englischen Begriff „Standing“ oder in der deutschen Sprache mit dem Begriff „Beharrungsvermögen“ benennen. Als Rechtsanwalt erlebe ich viele Angriffe auf meine Mandanten, auf das von mir vorgetragene rechtliche Anliegen und auch auf meine Person. Häufig erleben wir das Phänomen, dass Verwaltungsbeamte, die ausschließlich in einem bestimmten Bereich des Rechts tätig sind, meinen, sie seien Spezialisten, deren Bewertung nicht in Frage zu stellen sei. Auch haben Richter, die auf eine bestimmte Meinung festgelegt sind, oft genug den Standpunkt vertreten, ein bestimmtes Anliegen der Mandanten sei von der gängigen Rechtsprechung nicht abgedeckt und aussichtslos. In derartigen Situationen hat es oft geholfen, auf einen gesicherten Kernbestand juristischer Logik und Argumentationsfähigkeit zurückgreifen zu können. Diese Fähigkeit wird auch durch das Ablegen einer Promotion mit dem Rigorosum (der mündlichen Prüfung des Dissertationsverfahrens) geübt und ausgewiesen.

Dabei geht es mir nicht um das Äußere, nicht um das, was man negativ mit der „Blendwirkung“ des Doktortitels umschreiben könnte. Es geht mir um das Selbstbewusstsein, dass man daraus zieht, eine frei gewählte und durchaus schwierige Eigenprüfung bestanden zu haben. Die Zeit der Dissertation hat nämlich durchaus etwas Mönchisches an sich, sie ist nämlich eine Zeit höchster geistiger Konzentration, verbunden mit einem erheblichen Konsumverzicht. Diese Aufgabe bewältigt und am Ende etwas Sinnvolles zu Stande gebracht haben, ist eine ständige Kraftquelle und eine Quelle des fachlichen Selbstbewusstseins.

Der zweite Aspekt, den ich erwähnen möchte, ist die Gelegenheit etwas Sinnvolles für die Gesellschaft zu tun und zum gesellschaftlichen Diskurs beizutragen. Seinerzeit hatte ich eine besondere Möglichkeit, als mein Doktorvater Prof. Ridder mir den Auftrag gab, über „Chancen direkter Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland“ zu forschen. Das Forschungsobjekt war Art. 20 Abs. 2 Grundgesetz, wo es heißt

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt“.

Es stellte sich damals Anfang der achtziger Jahre die Situation, dass in der zentralen Frage der Stationierung von Pershing Raketen die Bevölkerungsmehrheit eine deutlich andere Position hatte als die Bundesregierung. Über den damaligen Streit will ich hier nicht sprechen und auch nicht nachträglich Position beziehen. Es geht mir lediglich um die Problematik, welche Mittel die Demokratie hat, um eine Ablösung der gewählten Regierung vom Volkswillen zu verhindern. In der Folgezeit wurde dieses Thema meiner Doktorarbeit vom Verein Mehr Demokratie e.V. aufgegriffen, auf Landesebene wurden vielfältige Bürgerabstimmungen von der Gemeindeordnung und von den Landesverfassungen ermöglicht. Mehr als einmal gab es hierbei Berührungspunkte mit Diskussionen im Bundestag und im Landtag. Auch hier will ich mir die Einzelheiten ersparen. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass unter anderem über Mehr Demokratie e.V. eine neue Form der Bürgerbeteiligung in die Politikgestaltung der Europäischen Union eingeführt wurde. Mit der Europäischen Bürgerinitiative (ECI), die in der EU-Verordnung Nr. 211/2011 näher geregelt ist, wird es ab dem 01. April 2012 möglich sein, eine Europäische Bürgerinitiative einzuleiten, deren Ergebnis dem Europäischen Parlament vorgelegt wird. Auch hier geht es mir nicht um die Details, nicht um die politische Stoßrichtung, nicht um das Pro und Contra. Entscheidend ist für mich alleine, dass die Promotion eine positive Chance eröffnet, auf den gesellschaftlichen Diskurs einzuwirken und der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Gleichzeitig eröffnet die Arbeit der Doktoranden der jeweiligen Universität die Chance, sich nach außen als Braintrust oder Think Tank darzustellen. Wenn die Universität derart zur Diskussion gesellschaftlicher Fragen beiträgt, ist sie eben deutlich mehr als eine höhere Schule, nämlich ein Ort des Anstoßes im positiven Sinne.

Der letzte Aspekt, auf den ich hinweisen will, ist die eigene mentale Veränderung durch die Dissertation. Sicherlich war es auch für andere Doktoranden typisch, als ich im ersten Jahr meiner Arbeit ca. 800 Bücher und Aufsätze ausgewertet hatte. Ich stand damals vor einem Berg von Notizzetteln und begriff, auf welch einem gigantischem Fundament vieler Generationen und vieler europäischer Länder das Verfassungsrecht unseres Grundgesetzes basiert. Zuerst fürchtete ich, in der Fülle dieses Wissens zu „ertrinken“ und kämpfte mich mühsam zu einer Gliederung vor, in der meine Überlegungen sortiert wurden. Danach schrieb ich eine erste Fassung meiner Dissertation, die ca. 650 Seiten umfasste. Prof. Ridder ermunderte mich damals, zwei Drittel davon wegzuwerfen und den Rest meiner Gedanken auf ca. 200 Seiten zu konzentrieren. Als ich damit fertig war, hatte ich die Befriedigung, ein wichtiges Kapitel deutscher und europäischer Verfassungsgeschichte, mental erfasst und auf die wichtigen Fragen destilliert zu haben. Als ich hiervon kürzlich meiner Tochter erzählte, sagte sie auf Neudeutsch: „Wenn Du so viele Infos verarbeiten musstest, hast Du ja echt ’ne mentale Festplattenerweiterung bekommen“. Da ist etwas Wahres dran, denn das Durchschreiten eines weiten geistigen Raumes lässt andere Probleme des Alltagsgeschäfts kleiner, überschaubarer und lösbarer erscheinen.

Mein Resümee ist also:

– Die Universitäten sollten die Promotion durch hohe Standards und Kontrollen gegen alle Arten von Diffamierung schützen.

– Die Professoren sollten den Doktoranden durch aktuelle und interessante Themen die Chance eröffnen, am gesellschaftlichen Diskurs teilzunehmen.

– Und schließlich sollten die an der Universität erfolgreichen Studenten die besondere Chance erhalten und nutzen, sich durch eine Promotionsarbeit eine „höchstpersönliche Festplattenerweiterung“ ihres Denkapparates zu verschaffen.